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Der andere Mann

Um es gleich vorweg zu nehmen; Im nachfolgenden Text kann man – muss aber nicht – evt. erst den roten Faden zum eigentlich Thema suchen. „Der andere Mann“ - ja ok, ich mache dazu eine Kurve zu meinem Vater, auch ein anderer Mann, quasi. Dichterische Freiheit also.

Ich weiss nicht wie es Ihnen geht, aber bestimmte Dinge haben sich tief in meine kindliche Seele eingegraben. Aber, keine Angst, ich will mich Ihnen nicht als Mitglied einer Selbsthilfegruppe zum Thema „Schreckliche Kindheit – wie weiter?“ outen. Vielmehr möchte ich darüber schreiben, wie simple Dinge im Leben eines Kindes seine Spuren hinterlassen und dabei gar nicht werten. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass jedes meiner Kinder irgendwann mal Dingen erzählen wird (vielleicht auch vorwerfen), an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann ODER diese ganz anders in Erinnerung behalten habe. Klar, das ist eine Frage der Optik, denken sie jetzt vermutlich. Genau, es gibt von jeder Geschichte - wie immer – mind. zwei Versionen.

Da gibt’s zB. die Erinnerungen an unzählige Mittagessen, daheim bei der Familie van Bergen. Sonntag, alle haben sich um den Esstisch versammelt. Punkt 12 wird gegessen. Gekocht hat Mutter (wer sonst) unter Mithilfe der Töchter (wer sonst?). Bevor ich nun weiter erzähle müssen Sie wissen, dass Essen in unserer Familie immer einen hohen Stellenwert hatte. Niemand musste je hungrig ins Bett. Etwas SO schlimmes konnte gar keiner angestellt haben. Und glauben Sie mir, wir waren bestimmt keine Engel! Waren auch später die Umstände unseres Lebens noch so widrig, unsere Eltern meinten: „Das überstehst du schon. Und überhaupt, z’Ässä müend’s eim gäh!“. Das tröstete.

Wie gesagt, meine Mutter kochte. Und sie tat dies gerne und gut. Der Speisezettel war abwechslungsreich und reich gefüllt. Wir waren alle sehr dankbare Esser. Heute als vierfache Mutter weiss ich, uns Kinder damals zu bekochen war ein Segen. Fünf Teller wurden bereitwillig hingehalten wenn’s darum ging, diese zu füllen. Kein entsetztes „wääääh, was isch das?!“ oder gar „chan ich au es Nutellabrötli ha?“.
Nein, wir assen was auf den Tisch kam, freiwillig!

Und Sonntags gabs manchmal ein Poulet. Mmmmmh, im Ofen gebraten, knusprig braun, innen saftig. Einfach lecker. Mit Bratkartoffel, Gemüse und Sauce. Der Vogel wurde zerteilt, die Beilagen vorab verteilt.
Und dann, jedes mal Hoffnung, jedes mal schielen auf DEN Teil des Poulet, den Klein-Stella auch mal, nur ein einziges mal, gerne gehabt hätte. Den Pouletschenkel!
Und jedes mal kriegte dieses beste Stück mein Vater – ganz selbstverständlich, ohne Diskussionen, erst den einen, dann den andern.

Logisch, denke ich heute, und auch nicht weiter schlimm. Er war der Grösste (körperlich) und der, der sicherlich auch körperlich am meisten gearbeitet hat. Und schliesslich war er Vater, dass reichte für mehr Rechte. Auch logisch, denke ich heute, als Mutter.

Aber glauben Sie mir, mich hat das jedes mal geärgert. Deshalb nämlich, weil es gar keine Frage sein konnte, dass vielleicht auch mal ICH dieses Teil gerne gehabt hätte. Einfach so, als Jüngste, Kleinste, (Liebste?). Stellen Sie sich vor, ich hätte irgendwann an einem schönen Sonntagmittag gesagt: „Hey Dad, heute will ich ihn, den Pouletschenkel!“ Noch heute stockt mir der Atem beim blossen Gedanken. Undenkbar!

Sie werden denken; Dann kauf’ Dir doch heute selber Deine dämlichen Pouletschenkel!
Ja, hab’ ich schon! Mehrmals. Aber wissen Sie was? Ich mag’ sie nicht! Das Brüstchen ist mir lieber.

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