Grossmütter
Meine Grossmutter war eine alte Frau. Graues Haar und dauernder Missmut gehörten ebenso zu ihr wie Zimmetfladen und Mittagsschläfchen. Die Weltanschauung meiner Grossmutter war irgendwo auf dem Stand von Kopernikus stehen geblieben und ich war stets froh, wenn ich nicht zu ihr musste.
Meine andere Grossmutter aber war eine herzliche und warme Frau, zwar auch mit ergrautem Haar, aber irgendwie gemütlich. Sie duftete stets nach Kuchen oder Guetzli und kannte die schönsten Geschichten, die sie einem dann auch gemütlich erzählte. Zu ihr fuhr ich immer sehr gerne.
Die beiden hatten aus meiner Sicht lediglich eine Gemeinsamkeit: sie waren uralt!
Die Grossmütter meiner Kinder – die sind definitiv kein bisschen alt!
Weder gäbe es da irgendwo graues Haar zu entdecken (moderner Haarchemie sei Dank) noch wäre da ein verstaubtes Weltbild anzutreffen oder aber sonst irgend etwas, dass dem Cliché der „alten Frau“ entspräche.
Vielmehr sind „unsere“ Grossmütter dauernd unterwegs und schneller weg, als man sie da hat. Zahlreiche Aktivitäten und Freunde warten, ferne Länder locken und Haus und Herd, die sind irgendwie gar nicht mehr so wichtig. Der Glaube daran, dass wir unsere Kinder bestens alleine erziehen, erlaubt unseren Müttern, sich auszuklinken und lieber eine Runde Bungee zu jumpen als mit uns über Ernährung zu diskutieren. Statt Geschichten erzählen wird‘s nun halt ein gemeinsamer Kinobesuch, denn beiden Generationen gefallen durchaus auch mal die gleichen Filme. Und fürs Mittagsschläfchen hat hier eh niemand Zeit und Lust, denn gemeinsam mit den Enkelkindern kann man ja zum Bowling gehen oder miteinander Sport treiben.
So hätte in unserer Zeit selbst Rotkäppchens Mutter keine Anweisungen betreffend Stimme und Augengrösse mehr geben müssen. Denn das liebe Rotkäppchen hätte ohnehin gewusst, dass es überflüssig wäre, die Grossmutter zu besuchen. Die wäre nämlich sowieso entweder gerade unterwegs bei der Seniorenwanderung oder in einem Wellness-Weekend, wenn’s ihr nicht ganz so gut ginge. Statt dem Korb mit Kuchen müsste Rotkäppchen einfach eine E-Mail schreiben und die liebe Grossmutter wäre absolut zufrieden.
Und wenn die lieben Kinderlein mehr über ihre Grossmütter erfahren wollten, tja, dann müssten sie ganz einfach deren neue Biografie kaufen oder aber in der Online-Datenbank die letzten Fotos von Oma’s Kreuzfahrt abrufen, alles ganz easy.
Ganz ehrlich, wenn ich den Elan und die Energie der heutigen Grossmütter sehe, dann weiss ich nur eines ganz bestimmt: die heutigen Mütter sind uralt!!!