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Poesie

"Tagebuch von den Ferien in die DDR

 

Fangen wir von vorne an: Am 8.10.1976 packten wir die Koffer über-voll und am Tag Darauf fuhren wir ab. Wir kammen aber 2mal zurück weil 1. Mami hat ihre Goldene Uhr vergessen, 2. Ich habe ein Loch im Socken gehabt. Dann fuhren wir ab. Doch wir fuhren geradezu ins Unglück und das war: Bei der Autobahneinfart Lenzburg riss meiner Mutter das Gasskabel und wir machten Gebrauch vom TCS-hilfsdinst. Etwa 300 km hinter diesem Weg fuhr uns ein gewisser Herr H. Schlei in den hinteren Teil unseres amerikanerwagens Cremlin X rein. Mami protestierte und wollte einen gleichwertigen Ersatzwagen haben. Wir bekamen so einen BMW. Damit haten wir einige Schwirigkeiten an der Grenze weil wir ein Papier nicht haten (Ein Papier für den Mietwagen). Wir holten es uns. Etwa gegen 10.30 Uhr kammen wir bei Tante Margitta an und assen abend Brot. gegen 11 Uhr kamm ich ins Bett."

 

wenn das nicht poesie pur ist - dann weiss ich auch nicht weiter, und zwar komplett mit allen schreibfehlern.

 

genau neun jahre und drei wochen alt war anna, als sie diesen text geschrieben hat - und wenn ich mich recht erinnere, tat sie das auch nicht ganz freiwillig. entweder es war "mami, mir ist langweilig" - "gib mal ruhe, dann schreib halt einen aufsatz über die ferien" oder es war "so, strafe muss sein: jetzt schreibst du einen aufsatz über die ferien". theoretisch könnte es auch noch "wir üben schön schreiben" gewesen sein.

 

wie auch immer, heute bin ich eigentlich überrascht, wie gut sie das schon gemacht hat - das talent zum schreiben hat sie ganz offenbar beibehalten. vermutlich wollte sie am anfang noch ausführlicher schreiben, bis sie dann gemerkt hat, dass poesie auch arbeit machen kann. da wurde der rest dann eben kurz zusammengefasst.

 

aber ich erinnere mich: die fahrt auf der autobahn (die anfänge habe ich vorsichtshalber verdrängt... und die tatsache, dass MIR das "gasskabel riss" lässt mich heute grinsen), der "gewisse herr h. schlei" (nicht im traume hätte ich mich an diesen namen erinnert), der uns ununterbrochen an der stoss-stange klebte und von dem ich gerade gesagt hatte "passt mal auf, der fährt uns noch hintenrein" - und schon knallte es.

 

eine wütende mutter - und ein zerknirschter herr schlei, der diese mit der bemerkung "ich will jemand in karlsruhe im krankenhaus besuchen - ja glauben sie denn, ich fahre mein auto absichtich zu schrott?" schnell wieder auf den boden holte. sein auto war wirklich schrottreif, unseres nur demoliert - aber wir konnten nicht weiterfahren. und verbrachten den restlichen nachmittag  an der autobahn und in karlsruhe, wo wir dann einen mietwagen übernahmen. und an diesem abend fuhren wir nur noch bis heidelberg weiter, wo wir tante und onkel besuchten und übernachteten.

 

am nächsten tag fuhren wir weiter in die (damalige) DDR. die von anna geschilderten schwierigkeiten mit dem mietwagen waren nicht die einzigen. die dortigen grenz-beamten waren in keiner weise hilfsbereit und nachdem wir nicht zum ersten mal zu einem verwandten-besuch fuhren (fast meine ganze familie mütterlicherseits lebte dort), wussten wir natürlich auch, dass man keinerlei druck-erzeugnisse mitnehmen durfte. den kindern wurde das besonders eingeschärft. natürlich kam dann an der grenze auch die frage "haben sie zeitungen oder sonstige druckerzeugnisse", die wir alle drei brav verneinten. bis sich dann bei einer kontrolle herausstellte, dass anna micky-maus-hefte eingepackt hatte. wir wurden wieder gefragt "haben sie noch mehr?" wieder kopfschütteln. bis sich dieses mal herausstellte, dass erik "das kapital" von karl marx eingepackt hatte. ich weiss nicht, ob er provozieren wollte (das war immer schon seine lieblingsbeschäftigung), oder ob er es fünf minuten lang ernst meinte. nun war das ja "das kapital" und damit im sinne des "deutschen sozialismus" - aber ein druckerzeugnios war es trotzdem.

zum dritten mal wurden wir gefragt "sonst noch was?" wieder "nein" - und mit hochrotem kopf stand mutter daneben, als der grenzbeamte die "brigitte", den "stern" und die "bunte" aus dem koffer zog. muss ich noch erwähnen, dass wir lange, lange zeit an dieser grenze zubrachten?

 

aber irgendwann kamen wir wirklich bei tante und onkel an - im steten wissen, dass jede unserer bewegungen überwacht wurde. als wir uns am nächsten morgen in gotha anmelden mussten, standen am strassenrand in regelmässigen abständen bis an die zähne bewaffnete russische soldaten und im ort schallte der lautsprecher "achtung, achtung. gesucht werden zwei sowjetische soldaten. vorsicht - die beiden sind bewaffnet" - was die bewohner des ortes zu dem hinweis veranlasste "seid ja vorsichtig, das sind so arme schweine, wenn die gefasst werden - die kennen wahrscheinlich nichts und schiessen auch". mindestens fünf minuten lang waren meine beiden sehr, sehr schweigsam. bei der meldestelle in gotha wurden wir mit einem unfreundlichen "wo waren sie denn so lange, sie sind doch schon gestern abend eingereist?" empfangen.

 

auch poesie pur - aber damals tatsache.

 

wir haben es immer sehr genossen, unsere verwandten in der damaligen DDR zu besuchen - aber wenn wir zu hause waren, war ich eigentlich doch sehr froh, dass meine kinder in einem anderen system aufwachsen konnten (ich bin im übrigen auch 4 jahre lang in der DDR zur schule gegangen - und kann über das schulsystem auch viel gutes sagen, über den rest nicht unbedingt).

 

ich weiss nicht, inwieweit meine kinder durch das "andere" system, in das sie hineinschnuppern durften, beeinflusst wurden - aber ist es nicht immer gut, wenn kinder ihre nasen auch einmal in andere "kulturkreise" stecken können? selbst dann, wenn sie nicht dem entsprechen, was wir für ideal halten? toleranz - und poesie, davon dürfen wir uns doch gerade heute wieder eine ganze portion wünschen.

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