Warten aufs Baby
In jungen Jahren hat mich mein Lehrer genötigt, etwas für meine Allgemeinbildung zu tun. Er hielt es für eine sehr gute Idee, mich zwecks dessen Samuel Beckett’s Buch „Warten auf Godot“ lesen zu lesen. Für die, die dieses Theaterstück nicht gelesen haben: es geht darin um zwei Männer, die irgendwo stehen und auf Godot, den sie nicht einmal kennen, warten. Irgendwann später habe ich eine Kritik dazu gelesen: „Nichts passierte. Zwei Stunden lang. Und dann passierte es schon wieder nicht.“
Selten habe ich eine informativere Kritik gelesen – selbst, wenn Sie Warten auf Godot nie gelesen haben, kennen Sie bereits jetzt die gesamte Handlung, in allen Details.
An genau dieses Stück fühlte ich mich doch bei unserem ersten Kind stark erinnert. Obwohl Joshua sich in der Schwangerschaft sehr vorhersehbar entwickelt hatte, wollte er partout nicht dann erscheinen, wann er erwartet wurde. Die ersten Tage über den Termin hinaus verstrichen – und nichts tat sich. Wann immer ich meine Mutter anrufen wollte, begrüsste sich mich kaum sondern japste mehr ins Telefon „Und? Ist alles gut gegangen?“ – hah, als ob da schon was passiert wäre. Auch im Freundeskreis wurde mir stets die gleiche Frage gestellt. Und jedes Mal musste ich bedauernd mitteilen, dass das Baby noch nicht da sei und ja, ich auch langsam froh wäre.
Im Gegensatz zu den auf Godot Wartenden kam ich immerhin in den Genuss von viel Bewegung. Irgendwo hatte ich gehört, dass das helfen könnte. Also habe ich das gesamte Haus geräumt und geputzt – und meinen arbeitenden Mann jeweils abends damit gestresst, dass er nun noch dieses und jenes nur rasch wegräumen musste. Unser Rasen war später nie mehr so proper gemäht wie zu dieser Zeit – ich habe ihn mit dem Handmäher sogar doppelt gestutzt. Und Treppen bin ich in den darauf folgenden Jahren nicht mehr so viele gestiegen wie in einer Woche. Meine Ungeduld nahm zu, mein Bauchumfang nicht mehr und die Nerven aller in meiner Umgebung wurden dünner und dünner.
Bis es dann endlich so weit war und mir starke Krämpfe verrieten, dass nun der Moment da war und „Godot““ nun wohl kommen würde. Im Spital angekommen legten sich die Krämpfe aber wieder etwas und es schien, als würde sich die Ankunft doch noch recht verzögern. Dann aber flammten die Wehen wieder auf und hielten nun die nächsten Stunden an. Jede Wehe schien endlos und ich sehnte mich bereits jetzt wieder danach zurück, einfach zu warten. Gnadenlos überwachte die Hebamme aber meinen Zustand und registrierte Zentimeterbewegungen haargenau. Es schien, als wollte Joshua es sich nun doch zuerst mal überlegen, ob er denn wirklich auf diese Bühne wollte. Nach langsamem Denken schien er sich entschieden zu haben und streckte dann irgendwann auch seinen Kopf hervor. Um dann aber doch wieder nichts mehr zu tun. Als der Minimalist, zu dem er später heranwuchs, dachte er wohl, das reiche so auch. Nichts ging mehr und dank recht langer Wehen fehlte es mir an der Kraft, dem kleinen Kerl irgendwie zu helfen. Nach einigen vergeblichen Versuchen blieb nur noch die Möglichkeit, eine Saugglocke anzusetzen und das Baby nun so zur Welt zu bringen.
Und jetzt, da ich dieses kleine Leben sah, fühlte ich mich noch einmal kurz erinnert an das Theaterstück. Denn genau so faltig und zerknittert hatte ich persönlich mir Godot vorgestellt, wenn er dann kommen würde. Ein alter Mann, sonst hätte er sich ja nicht so viel Zeit lassen müssen. Weise und sehr beschäftigt.
Doch schon der erste Schrei holte mich ins Leben zurück und ich wusste, dass ich nun den grossen Unterschied gefunden hatte: mein Warten wurde belohnt und ich fand mich nicht auf der Bühne, sondern mitten im Leben. Obwohl später noch so einige theaterreife Szenen von und mit Joshua gespielt werden sollten.
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